Zeit und Geld werden knapper, die Rhetorik wird schärfer und die Märkte reagieren nervöser. Die rhetorische Verschärfung mag an vorangegangene „entscheidende“ Verhandlungswochen erinnern. Doch mit Ablauf des Rettungspakets Ende Juni scheinen die Märkte zunehmend einen Zahlungsausfall zu befürchten. Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras hat sich bereit erklärt, die Verantwortung für die Folgen der Ablehnung eines unfairen Abkommens mit den Gläubigern zu übernehmen. Die Reaktionen von Vertretern der Niederlande, Portugals und Deutschlands deuten darauf hin, dass die Gläubiger seine Äußerungen ernst nehmen. Man richtet sich wohl auf einen Zusammenbruch der Gespräche ein.
„Eine Einigung mit unseren Partnern abzuschließen ist ein historisches Gebot, das zu ignorieren wir uns nicht leisten können“, schrieb der Gouverneur der griechischen Notenbank, Yannis Stournaras, in einem Jahresbericht zur Geldpolitik. Das Scheitern würde „den Beginn eines schmerzlichen Wegs markieren, der zunächst zu einem Zahlungsausfall Griechenlands und letztlich zum Ausscheiden des Landes aus dem Euroraum und wahrscheinlich auch aus der Europäischen Union führen würde“.
Griechenlands Liquiditätsprobleme spitzen sich zu, die Ende Juni fällige IWF-Tranche in Höhe von 1,54 Mrd. Euro scheint ohne Zugriff auf IWF-Liquiditätsreserven nicht möglich. Die EZB hat bisher das griechische Bankenwesen funktionsfähig gehalten, indem sie die Notfallkreditlinien (ELA) auf aktuell zuletzt 84,1 Milliarden Euro erhöht hat. „Dies reicht nicht aus und deckt kaum die Mittelabflüsse der letzten drei Tage von griechischen Banken“, sagte Nicholas Economides, Wirtschaftsprofessor an der Stern School of Business der Universität New York. Die EZB könnte zwar wie im Falle Zyperns 2013 damit drohen, die Linien zurückzufahren, doch scheint sie bisher nicht geneigt, diejenige zu sein, die den Stecker zieht. Zum Zeitdruck kommt hinzu, dass bereits das letzte von der Troika unterbreitete Angebot der Zustimmung mehrerer europäischer Parlamente, inklusive dem griechischen, bedürfte.
Mit Wahrscheinlichkeitsrechnung und Spieltheorie ist derzeit keinem geholfen. Das rhetorisches Aufrüsten, die Unerfahrenheit im Umgang mit der griechischen Regierung und das Beharren von Tsipras auf sein Wählermandat machen es nahezu unmöglich vorherzusagen, ob und was für Kompromisse noch in letzter Sekunde eingegangen werden können. Die Situation ist dynamisch und muss täglich neu bewertet werden. Wenn sich die Parteien nicht einigen und Griechenland in einen Zahlungsausfall schlittern sollte („Graccident“), werden voraussichtlich alle Verhandlungspartner die Situation und ihre Verhandlungstaktik neu überdenken, was wiederum ein neues Abkommen ermöglichen könnte. Die Marktreaktion wird von der Qualität dieses Abkommens abhängen – ob es sich nur um einen weiteren, aufschiebenden faulen Kompromiss oder um eine wirkliche Lösung mit tragfähigen Strukturreformen handelt.